Istanbul, Türkei03/17–06/17

Sherine Anis

In der Früh, je nachdem oder zu welcher Uhrzeit das Fenster offen ist, strömt der Duft abwechselnd zwischen Çay, Kaffee, Zigarette oder der dezenten Bosporus-Brise aus Istanbul hinein durchs Fenster ins Atelier. In einem orientalischen Takt, fast einem gewohnten Takt höre ich manchmal bewusst oder unbewusst den Muezzin plärren oder singen oder aufgenommen. Mit dieser täglichen Routine verortet zu sein in einem hauptsächlich muslimischen Staat, fühle ich eine Nähe, eine sanfte und gemütliche Nähe zu der Stadt. Gelegentlich denke ich, wie wirklich unglaublich es ist, wie die Medien und die Nachrichten ein Bild von einem Land und seiner Bevölkerung negativ prägen können, dass meine Ursprungsfamilie und meine eigene Familie mir von der Zeit hier abgeraten haben, mich davor gewarnt haben, es sei wegen der Verhaftungswelle für die kurze Zeit viel zu gefährlich (!). Sogar die beruhigenden Worte oder die verantwortungsvollen Versprechen, die ich gab […], halfen nichts. Diese Gespräche habe ich bereits vergessen, ich schaue durch das Fenster, die Nachbarn leben vor mir her, ich beobachte sie. Manchmal sehen sie mich, an der Fensterkante lehnend. Für ein paar Monate bin ich ein Teil ihres Alltags, wenn sie zum Fenster rausschauen.

Wenn die Blicke zweier Fremder sich treffen und diese ungewollte Millisekunden Spannung sich durch den neugierigen Blickkontakt entlädt, wie ein unbeabsichtigter kurzer Aufprall beim Parken in einer viel zu engen Parklücke.

1. Mein Aufenthalt im Atelier in einem Wort:
  Ereignisreich
2. Das fehlt mir/das vermisse ich, seit ich nicht mehr dort bin:
  In erster Linie vermisse ich die Menschen, ihre sanfte, hilfsbereite und willkommene Art, so wie sie mir begegneten, so entstanden aus diesen Begegnungen Freundschaften.
Auch die endlosen Möglichkeiten mit dem unterschiedlichsten Material zu experimentieren.
Jederzeit, wenn man nur ein bisschen Türkisch konnte, gutes leistbares Essen bestellen zu können und auch die musikalische Begleitung bei den Brücken, auf der Fähre oder sonst wo.
3. Dos & Don’ts an diesem Ort:
  Diese Stadt ist riesig, je nachdem, wo man unterwegs ist, gibt es eigene Dos & Don’ts. Vor allem die Verhalten-Codes für Frauen sind länger als für Männer. 2017 gab es das Referendum, diese 50/50-Schere zwischen der konservativen und liberalen Bevölkerung spiegelt sich in bestimmten Vierteln der Stadt wider.
„Where do you come from?“ ist eine Frage, die in 90% der Gespräche gestellt wird, jede/r, die/der nicht Türkisch kann, ist automatisch ein/e Yabanci – also Fremde/r. Die Antwort ist je nach politischem Kontext auch behutsam zu wählen.
In meinem Kontext würde ich jeder/m Türken/in meine Lebensgeschichte erzählen müssen, also habe ich gute Wege gefunden, diese Frage mit Humor oder einer guten Lüge zu umgehen.
4. Wo man super Arbeitsmaterial kaufen kann:
  Diese Stadt hat alles, mit „alles“ meine ich wirklich alles!
Material zum Bauen gibt es in Kadıköy, eine Fundgrube für Arbeitsmaterial, Schutzbekleidung, Werkzeug usw.
Alles mit Stoff oder Meterware und die dazu benötigten Verschlüsse findet man am besten in Eminönü.
Braucht man was fürs Auto ist es Maslak.
In Tuzla ist der Sitz der Industrie.
Fotomaterial und Leinwände gibt es gleich neben dem Bazar.
Bauhaus gibt es auch, zahlt sich nur aus, wenn man sich Holz zuschneiden lassen will.
5. Das sollte man unbedingt von zu Hause mitnehmen:
  Türkisch-Kenntnisse
6. Zum Thema Kunst an meinem Residency-Ort:
  Leider fluktuieren die Offspaces dort, das hängt davon ab, wie gut sich ein Raum selbst erhalten kann. Es gibt keine Unterstützung seitens der Regierung. Also gar keine leichte Aufgabe für die Menschen, die im kulturellen Bereich arbeiten wollen. Es wird ihnen der Hahn so stark abgedreht, dass es Jahr um Jahr eine Frage des Überstehens ist. Das hängt mit den gegebenen Macht- und Regierungsverhältnissen zusammen.

Die Konsequenz daraus ist, dass es nur wenige bestehende Orte gibt: REM Art Space zum Beispiel. Depot zeigt sehr interessante Arbeiten, zählt aber nicht als Offspace, und dann gibt es noch klassische Galerien, wie KRANK Art Gallery im Tomtom_Viertel.
7. Rund um das Auslandsatelier – hier kaufe ich ein, hier trinke ich Kaffee und hier gibt’s den besten Mittagsteller in Laufdistanz:
  Ich wünschte; ich könnte diese Frage so einfach beantworten, ohne dass ich den Rahmen sprenge. Es gibt meine entdeckten Highlights, wenn die Mami oder Papi zu Besuch kommen:
cezayir-istanbul.com
extrem gute Fusion-Küche
miklarestaurant.com/en
gutes türkisches Essen mit einem tollen Ausblick
akinbalik.com.tr
vielleicht der beste Fisch mit einer bezaubernd authentischen Atmosphäre, vorher reservieren, sonst gibt’s keinen Platz!
8. Den Tag lasse ich häufig hier ausklingen (Dinner, Drinks und bester Sound):
  Die Zeit und auch das Atelier habe ich gerne geteilt. Freunde, die in der Nachbarschaft waren, kamen vorbei, und so habe ich am liebsten meinen Tag ausklingen lassen.
9. Was ich gerne schon am Beginn meiner Residency über das Atelier gewusst hätte:
  Ob ich im Garten arbeiten darf.


Website Künstler:in:              sherineanis.net