Istanbul, Türkei04/23–06/23

Sabine Schwaighofer

Nach den „Coronajahren“ konnte ich statt 2021 endlich im April 2023 meinen Aufenthalt in Istanbul antreten. Istanbul übt seit meinem ersten Besuch 1997 eine große Anziehung auf mich aus. In den letzten zwei Jahrzehnten konnte ich immer wieder für Kurzbesuche hinreisen.

Umso größer war meine Freude als ich das Auslandsatelier für drei Monate zugesprochen bekam.

Die Lage des Ateliers ist sehr zentral, allerdings auf einem Hügel gelegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln – außer Taxis – nicht direkt erreichbar. Somit habe ich viele der Wege zu Fuß zurückgelegt. Das schöne und großzügig angelegte Atelier bietet neben seiner zentralen Lage auch genug Platz für Besucher*innen. Man wird durch die sehr netten Doormen aufmerksam betreut, allerdings ist die Unterhaltung nur auf Türkisch möglich. Für Lärmempfindliche empfehle ich Ohropax. Istanbul ist laut und im Haus gibt es einige Wohnungen, die mittels Airbnb vermietet werden.

Es gibt unzählige tolle Lokale und Bars in der näheren Umgebung. Ebenso sehr viele Geschäfte jeglicher Art und ein paar Supermärkte, wo man alles Wichtige bekommt, sowie Bäckereien und Konditoreien. Istanbul bietet eine enorme Fülle an Nahrungsmitteln und da vor allem an Süßwaren.

 

2001 hatte ich das Atelierstipendium in New York. Istanbul vibriert auf ähnliche Weise. Millionen von Menschen (16 milyon için çalışıyoruz – Wir arbeiten für 16 Millionen – das Motto der Stadtverwaltung) bewegen sich durch die Stadt.

Ich vorzugsweise auf einer der unzähligen Fähren, die von Europa nach Asien und retour über den Bosporus bis hin zum schwarzen Meer oder den Prinzeninseln im Marmarameer fahren oder über das Goldene Horn – den Haliç bis nach Eyüp Sultan, einem Wallfahrtsort.

 

Mein Aufenthalt fiel in eine politisch aufgeheizte und für alle, die ich in den drei Monaten kennenlernen durfte, in mehrfacher Hinsicht aufgeregte Zeit. Die Inflation war/ist enorm. Die Mietkosten eines Freundes hatten sich vervierfacht. Auch konnte ich gegenüber meinen bisherigen Besuchen eine verstärkte Sichtbarkeit von Religiosität feststellen, sicherlich auch, da meine Ankunft in die Zeit des Ramadan gefallen ist.

 

Herausragende politische Momente meiner Zeit in Istanbul waren zwei Wahldurchgänge, die jene, die ihre Hoffnung in das Oppositionsbündnis setzten, in gewisser Weise in Geiselhaft genommen hatten. Bekannte waren deprimiert und bekundeten Ausweglosigkeit. Die erneute Wahl der Regierungspartei hatte vor allem weitere negative Auswirkungen auf die Rechte der Frauen und die queere Community. Der Stadtteil Beyoğlu in dem sich das Atelier befindet ist Lebens- und Arbeitsort vieler queerer Menschen.

 

Selbst eine queere Person, kann ich die Sorge und Verzweiflung sehr gut verstehen, aber ich habe während meines Aufenthaltes auch den Kampfgeist, die Wut und den Widerstand vieler queerer Menschen miterleben dürfen. Die Widerstandskraft der Queeren Communities hat sich in zwei von der Regierung verbotenen Demonstrationen gezeigt, die Trans- und die Queer-Pride im Juni. Während in Österreich hunderttausende Menschen demonstrieren und feiern konnten wurde an den Istanbuler Pride-Tagen großräumig die Gegend zwischen Taksimplatz und Tophane polizeilich abgeriegelt.

Obwohl ich zu den Demos gehen wollte, habe ich mich anders entschieden, da ich nicht in Istanbul inhaftiert werden wollte. Ein Freund von mir wurde sofort verhaftet als er nur in die Nähe eines Treffpunkts kam. Erst zwölf Stunden später, um 3 Uhr nachts, wurde er zeitgleich mit vielen anderen wieder freigelassen. Vor allem Transmenschen wurden durch die Staatsgewalt misshandelt.

In der Istiklal Caddesi, die sonst von 1000en Menschen besucht wird, herrschte totale Stille. Es gab Straßensperren bis 23 Uhr. Schließlich der erlösende Lärm als Autos die Istiklal wieder queren durften.

Zwischen den beiden Pride Demonstrationen im Juni wurde die Champions League in Istanbul abgehalten. Massen von Fußballfans durchzogen die Istiklal Caddesi und ihre Seitengassen. Polizei war da nur wenig zu sehen. Ich hätte mir gewünscht, dass dieses wichtige Fussballevent von der UEFA dazu genutzt würde für die Rechte von Queeren Menschen einzustehen und dass dadurch die Trans- und der Queerpride erlaubt wird. Aber dem war nicht so.

Es ist sehr hart für die queere Community in der Türkei und viele denken ans Auswandern. Allerdings ist es sehr schwierig ein Visum zu bekommen, um ins „sichere Ausland“ zu gehen und dazu noch extrem teuer. Und wer verlässt schon gern erzwungen das Zuhause, Freund*innen und Familien.

 

Es war also eine aufwühlende Zeit, und obwohl mitten im Geschehen, war ich eine privilegierte Außenstehende.

 

Für meine fotografisch-künstlerische Tätigkeit habe ich mich vorwiegend draußen aufgehalten.

Nun ist ein halbes Jahr seit meiner Rückkehr vergangen aber der künstlerische Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich habe hunderte von Fotos gemacht und mittlerweile ist auch ein Portfolio daraus entstanden. Ich habe gemerkt, dass es mir schwergefallen ist mich aufgrund der überall vorherrschenden Fülle auf wenige Themen zu fokussieren. So wie jede Seitengasse lockt, haben sich auch meine Fotomotive aufgeteilt. Dennoch hat sich vor allem ein Architekturschwerpunkt herauskristallisiert und wie bereits bei früheren Besuchen haben mich auch diesmal die enorme Vielfalt an Geschäften und der dort zum Verkauf angebotenen Dinge fasziniert. In Istanbul bekommt man wahrscheinlich alles und mehr.

Es war relativ einfach mit Menschen in Kontakt zu treten und so habe ich auch begonnen Leute, die ich erst kurz zuvor kennengelernt habe zu fotografieren. Eine Kamera ist im Gegensatz zu einem Handy offenbar attraktiv und ich wurde von einigen Jugendlichen und Männern auf den Straßen gebeten Fotos von ihnen zu machen.

 

In den drei Monaten habe ich sehr viele neue Menschen kennengelernt und bereits bestehende Kontakte intensivieren können.

Da ich vor allem die ersten Wochen oft allein unterwegs war, konnte ich schnell Leute aus diversen Bereichen kennenlernen. Mein besonderer Dank dabei gilt Silvia Neureiter, der Direktorin des Avusturya Kültür Ofisi, die mich zu vielen Veranstaltungen und Konzerten eingeladen hat und die mir auch angeboten hat im Gästehaus des Konsulats in Yeniköy zu wohnen, sollte es Ausschreitungen während und nach den Wahlen geben, glücklicherweise war dem nicht so. Dank auch an Thomas und Sabine Küper-Büsch, die für das BMKÖS die Stipendiat*innen vor Ort betreuen und mit denen ich mich regelmäßig getroffen und ausgetauscht habe.

Ein großer Dank gilt auch meinen queeren Freund*innen und Künstler*innen Serkan und Selin die mich durch die drei Monate begleitet haben und Fixpunkte meines Aufenthalts waren.

 

Ein großer Teil des Stipendiums war für mich das Entdecken. Istanbul bietet Architektur aus mindestens 1500 Jahren Zeitspanne.

Die Stadt ist so riesig und hat je nach Interesse Unmengen zu bieten. Sie ist aufregend und abenteuerlich und so gut wie überall ist etwas los. Wo Menschen sind, gibt es Märkte, Geschäfte und Lokale.

Höfliche Menschen, die eine*n wiedererkennen, sobald man sich einmal in die Augen geschaut hat und Widersprüche, die sich irgendwie trotzdem ergänzen.

Ein persönliches Highlight: Ich konnte im queeren Lokal Şahika auflegen und war sehr glücklich darüber für eine kurze Zeit ein aktiver Teil der Community sein zu können.

 

Musiktipp: KÖFN - Bi' Tek Ben Anlarım https://www.youtube.com/watch?v=9TSf2k03HPA

1. Mein Aufenthalt im Atelier in einem Wort:
  3 Worte: Zeit, Abenteuer, Freiheit
2. Dos & Don’ts an diesem Ort:
  Be polite :-)
3. Das fehlt mir/das vermisse ich, seit ich nicht mehr dort bin:
  Die Energie. Fast überall, wo man hinkommt, ist was los. Kadıköy (auf der asiatischen Seite), den Bosporus und die Fahrten mit den Fähren, die Istiklal Caddesi. Zeit zu haben, um noch mehr eintauchen zu können in die Stadt, vor allem in die queere Welt. Tolle Einkaufserlebnisse, vor allem auch von Nahrungsmitteln. Unglaubliche Fülle. Entdeckungsmöglichkeiten ohne Ende.
My new and old friends.
4. Super Arbeitsmaterial gibt’s hier zu kaufen:
  Je nach künstlerischen Bedürfnissen findet man wohl tatsächlich alles. Je nach Medium auch z.B. bei anderen/heimischen Künstler*innen nachfragen.
5. Das sollte man unbedingt von zu Hause mitbringen:
  Ohropax wenn lärmempfindlich. Basic Sprachkenntnisse empfehlenswert.
6. Zum Thema Kunst an meinem Residency-Ort und wo ich die besten Ausstellungen besucht habe:
  Im Arter und Depo (Tütün Deposu, ganz in der Nähe des Ateliers), im Istanbul Modern, im Bomonti Merkez in Şişli, im Müze Gazhane in Kadıköy und im Tophane-İ Amire Culture and Art Center just around the corner.
7. Rund um das Auslandsatelier – hier kaufe ich ein, hier trinke ich Kaffee und hier gibt’s das beste Mittagsmenü um die Ecke:
  Es gibt unendlich viele Möglichkeiten einzukaufen und essen zu gehen. Einer meiner Lieblingsplätze (die Defterdar Straße vom Atelier runter Richtung Tophane): Das Café oberhalb des Tophane-İ Amire Culture and Art Center. Nettes Team, tolle Aussicht. Die Tarihi (historische) Bäckerei, die rund um die Uhr geöffnet ist gleich bei der Firuzağa Moschee um's Eck vom Atelier. Gleich in der Nähe ein gutes Gemüse und Obstgeschäft: Yeşilçam Manavı. Sehr nett ist auch der Orka Süpermarket. Im Carrefour Supermarkt war ich auch oft (breite Auswahl an Produkten). Rabattkarte liegt im Atelier. Thailändisch im Az Cok Thai, Cafe Urban: queer & arty, sehr gutes Essen und sehr netter Service, gleich in der Nähe die sehr günstige und nette Çukur Meyhane (Rakı Restaurant). Nette Lokale und Meyhanes in der Asmali Mescit Caddesi (Seitenstraße der Istiklal Caddesi). In Meyhanes
(Meze, Rakı ve Müzik) am besten mit anderen hingehen. Beim Atelier: Das relaxte Firuz Café in der Defterdar Yokuşu Richtung Taksim, oder das nette SaVa Anatolian Breakfast House. Journey Cafe, höhere Preise aber sehr gutes Essen.
Die Fähre nach Kadıköy (asiatische Seite) nehmen: unzählige gute Meyhanes mit oftmals Livemusik. Toller und auch günstiger Essensmarkt. Kuzguncuk Viertel in Üsküdar (asiatische Seite) besuchen. Tolle Konditorei am Eck: Dilim in der Icadiye
Caddesi. Schöne Straße mit vielen Lokalen und Baumallee. Es gibt unzählige tolle Orte :-).
Mobiles Internet z.B. auf der Istiklal Caddesi bei Vodafone (trotz neuer Simcard, die Nummer für Whatsapp bleibt die gleiche).
Günstigstes Geldabheben bei der Halkbank (auch in der Nähe vom Atelier), without Conversion.
Must have: App für die Fähren: Şehir Hatları
8. Den Tag lasse ich bei einem Dinner, Drinks, gutem Sound oder zum Networken häufig hier ausklingen:
  Im Ziba: tolles queeres Lokal mit sehr nettem Personal und guter Musik, gleich nebenan das Banger (für Parties), Eingang für beide: die Gasse hinter dem Yapı Kredi Kültür Sanat (auf der Istiklal Caddesi) Queere (meist Techno & elektronische Musik) Parties im Şahika, Nevizade Sok. No:5, 6. Stock. Unten Bar oben (Open Air) Disco :-).
Konzerte: z.B. im Blind (nähe Istiklal Caddesi und um's Eck der Soyfalı Sokak), da gibt's ein Lokal neben dem anderen. Alkohol ist leider sehr hoch besteuert und dadurch sehr teuer.
Die Fähre nach Kadıköy nehmen: Queere Parties mit Drag Shows gibt’s im Mecra, in der Nähe von der Fähre und mitten im Meyhane Viertel.
Neu: Sendika Beyoğlu (war noch nicht geöffnet, als ich dort war, aber auch queermixed).
9. Was ich eigentlich gerne schon am Beginn meiner Residency über das Atelier gewusst hätte:
  War gut informiert durch das BMKÖS.


Website Künstler:in:              sabineschwaighofer.net